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kurzgeschichten

Klatschmohn und Stella

Klatschmohn und Stella

Meine Füße baumeln und der Wind fährt mir unter das Kleid. Wir sind die einzigen, die am Bushäuschen warten. Es fängt gerade erst an, richtig Tag zu werden. Ein paar bunte Ranzen hüpfen vorbei. Mutter sagt, ich werde auf eine tolle Schule gehen und die Sonne malt ihr dabei einen Schmetterlingsschatten unter ihre Nasenflügel.

 

Als wir klein waren, sind wir barfuß raus aufs Feld gerannt und haben Klatschmohn gepflückt. Das war unser Strauß Neurosen, obwohl wir keine Ahnung hatten, dass Neurosen keine Blumen sind. Vater hat immer zu Mutter gesagt, sie habe Neurosen. Dann hat Mutter geweint. Mutter hat viel geweint. Vor Glück, vor Schmerz, weil Großmutter die Kätzchen erschlagen hat, einfach immer.

Großmutter konnte die Mutter noch nie gut leiden. Sie sei nicht patent genug, hat sie immer gesagt, habe zu dürre Arme, um am Hof anständig mit anzupacken. Außerdem habe sie nur Flausen im Kopf, weil sie ein Stadtkind sei. Stadtkinder taugen nichts fürs Land. Als die Großmutter sehr krank wurde und nicht mehr aufstehen konnte, hat Mutter sie gepflegt. Sie hat die Großmutter gefüttert, aber die hat das Essen regelmäßig ausgespuckt und den Nachttopf umgestoßen. Immerzu stank es aus ihrer Kammer nach Kot und Urin. Sterben wolle sie, hat sie geschrien, endlich verrecken, um die Mutter nicht mehr sehen zu müssen. Als die Großmutter dann gestorben ist, hat die Mutter auch geweint.

Ich kann mich an den Sommer erinnern, als Tante Gitti uns besuchte. Es war der heißeste Sommer seit Jahren und Stella und ich liefen den ganzen lieben Tag nur mit einem Höschen bekleidet herum, saßen im Grand vor dem Haus und spritzten uns mit Wasser ab. Gitti brachte immer Süßes mit und hübsche Kleider aus der Stadt. Für Stella hatte sie dieses Mal einen Büstenhalter dabei.

Tante Gitti hat keine Kinder. Der Vater meinte, weil sie sich zu sehr wie ein Mann benimmt, immer diese Cordhosen trägt und einen wilden Bubikopf hat. „Die Mädchen sollen Abitur machen“, sagte sie, „und ein Instrument lernen.“ Ein paar Wochen nach Tante Gittis Besuch kam ein Laster auf den Hof gefahren. Vater war auf dem Feld, und als wir von der Schule nach Hause durch die Tür stürmten, stand ein schönes, altes Klavier in der Wohnstube neben dem Kachelofen. Es sei zwar alt und müsse gestimmt werden, aber es würde schon gehen, schrieb Tante Gitti. Rubinroter Samt lag auf den schneeweißen Tasten. Ich hatte noch nie ein so schönes Rot gesehen. Stella und ich stritten uns, wer zuerst darauf spielen durfte. Schließlich einigten wir uns, dass Stella, weil sie die ältere war, auf die weißen und ich auf die schwarzen Tasten schlage. Ein kleines Notenheft von Anna Magdalena Bach stand ausgebreitet auf dem Klavier und Mutter spielte uns schöne Melodien vor. Ich wusste nicht, dass Mutter Klavier spielen konnte.

Am Abend gab es Vaters Lieblingsessen. Das Klavier durfte aber trotzdem nicht hier bleiben. „Raus muss es, aber schnell“, schimpfte er. „Wenn die Mädchen schon aufs Gymnasium sollen, dann sollen sie nicht mit so unnützem Geklimper vom Lernen abgehalten werden.“ Gut, dass das Klavier Rollen hatte. Mutter schob es ganz allein hinaus in den Garten unter das Vordach und pflanzte Primeln hinein, was den Vater wütend machte, aber sagen konnte er nichts, denn es hat ja nur hinaus müssen.

Aufs Gymnasium schaffte es nur Stella, ich nicht. „Selbst schuld“, sagte der Vater. Wenn ich doch nur nicht so ein Hans Guck-in-die-Luft wäre. Stella musste nun eine Stunde früher weg, weil sie mit einem anderen Bus fuhr. Sie kam erst spät und durfte im Zimmer nicht beim Lernen gestört werden. Von da an ging ich oft allein hinaus, legte mich ins Feld zwischen den Klatschmohn und wartete auf den Regen. Früher war es ein Spiel, und wem der erste Tropfen auf den Mund fiel, der hatte gewonnen.

Vater und Mutter stritten nun immer häufiger. Die Schule sei zu teuer, sagte er und Mutter saß dauernd im Garten neben dem Klavier und schrieb Briefe an Tante Gitti, die heimlich Geld schickte. Als Mutter einmal nach drinnen ging, um die Erdäpfel vom Herd zu nehmen, habe ich aus ihrer Schatulle einen der Briefe genommen und ihn im Feld gelesen. Tante Gitti schrieb etwas von Scheidung, und dass das heute nicht mehr so schlimm sei. Die Mutter und wir könnten bei der Tante wohnen, übergangsweise, und für Stella und mich gäbe es tolle Schulen. Die Mutter könne in der Fabrik arbeiten.

Als wir zu Bett gingen, habe ich Stella gefragt, was das sei, Scheidung. Sie bürstete gerade ihr Haar, das so schön blond schimmerte. Meins war mittlerweile nur noch aschblond. „Wieso fragst du das“, sagte sie und ich betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Es war ein schönes Gesicht, mit vollen Lippen und großen, grünen Augen. „Nur so“, entgegnete ich. Wir kuschelten uns in Stellas Bett und ich umschlang ihre Füße mit meinen. Ihre Waden waren mit weichen Härchen besetzt. Sie hielt mich ganz fest und drückte mich an sich. Ich spürte die Polster ihres Büstenhalters. Warum die Eltern immer so streiten müssen, habe ich sie gefragt und Stella sagte: „Das ist halt so. Man verletzt die Menschen, die man am meisten liebt.“

Dann kam die Zeit, als Stella überhaupt nicht mehr mit hinaus aufs Feld kam. Ich solle endlich erwachsen werden, schrie sie mich an, als ich vor ihr auf dem Kammerboden saß, mich an ihre Beine klammerte und weinte. Sie ging trotzdem und kam erst spät am Abend zurück. Ich bin aufgeblieben und habe sie vom Kammerfenster aus beobachtet. Stella torkelte, lachte, als der Vater ihr eine Ohrfeige gab, und spuckte vor ihm auf den Boden. Dann hat Vater Stella gepackt und schubste Mutter beiseite, als sie dazwischen gehen wollte, doch Stella lachte nur. Sie lachte, so wie Großmutter ab und zu plötzlich zu lachen begonnen hatte, als sie schon sehr krank war und kurz bevor der Herrgott sie zu sich geholt hat. So habe ich Stella noch nie gesehen. Ich fühlte mich komisch, so als wüsste ich nicht das Geringste über sie, obwohl ich sie schon mein ganzes Leben lang kenne. Das da unten ist nicht meine Schwester, dachte ich, sie ist eine Fremde.

Als Stella in die Kammer kam, tat ich so, als würde ich schlafen. Ich lag mit dem Rücken zu ihr, während sie den Koffer aus dem Schrank nahm und ihn hastig mit Kleidung füllte. Sie setzte sich ans Bett und strich mir über das Haar, atmete schwer und schluchzte. Dann gab sie mir einen Kuss und war weg.

Stella schrieb oft, alle Briefe waren an mich adressiert. Das schmerzte die Mutter, den Vater schien es nicht zu kümmern. Sie erzählte von den Farben in der Stadt, dass ich mir gar nicht ausmalen könne, wie bunt und exzentrisch die Kleidung der Frauen sei, dass sie sehnsüchtig auf Nachricht von mir warte und ich sie bei der Tante bald besuchen soll. Ich schrieb, der Klatschmohn habe seine Farbe verloren, seitdem sie weg ist.

Ich musste nun öfter auf dem Hof helfen, weil die Mutter immerzu im Garten saß und rauchte. Sie starrte auf das Klavier, und wenn ich vor ihr stand, schien sie durch mich hindurchzusehen. Ihr Gesicht war fahl geworden, obwohl sie den ganzen Tag in der Sonne saß und Briefe schrieb. Der Vater war abends immer lange fort, und wenn er spät in der Nacht mit dem Rad auf den Hof fuhr, hörte man Gebrüll und Getrampel. Einmal sah ich ihn, wie er mit dem Drahtesel gerade auf den Misthaufen zufuhr und schließlich vom Rad fiel. Geflucht hat er und Mutter ist in meine Kammer gekommen, hat die Tür von innen verriegelt und sich zu mir ins Bett gelegt. Sie hielt mir die Ohren zu und summte das Lied von Anna Magdalena Bach, damit ich den Krach nicht höre.

Als Mutter mich eines Abends weckte und mir den Zeigefinger gegen die Lippen drückte, dachte ich mir nichts weiter. Ich packte meinen kleinen Koffer, der immerzu bereit unter dem Bett lag, und wir gingen ins Dorf zur Anne, einer Tante vom Vater. Dort bekam ich heiße Milch und schlief in Mutters Armen auf der Küchenbank ein, bis der Vater in der Früh auf dem Hof stand, mit großen Augen, die Mütze in der Hand, und die Mutter anflehte, wieder zurückzukommen. Schließlich sind wir den weiten Weg wieder heimgelaufen, ich habe meine Kleider wieder in den Schrank geräumt und den Koffer unter dem Bett verstaut.

 

Nun ziehen die Felder vorbei und der Mohn biegt sich im Wind. Ich sehe Stella und mich darin liegen, wie wir mit den Zehen die Blütenkelche pflücken und sie uns ins Haar flechten. Mutter sieht starr nach vorne und ihre Brüste hüpfen vom Poltern der Räder auf und ab. Sie trägt ihr bestes Kleid, das mit den weißen Punkten. Mit ihren Händen hält sie den Koffer fest auf ihrem Schoß. Ich wollte Stella einen Strauß Klatschmohn pflücken, doch Mutter sagte, er würde welk auf der langen Fahrt. Wie weit es denn sei, fragte ich sie und Mutter sagte nur: „Sehr weit.“

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