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kurzgeschichten

Lisboa

Lisboa

Peter sagt, ihm tuen die Füße weh, geht hinüber und setzt sich auf eine Bank. Dann holt er seine Kladde aus der Fototasche, betupft die Miene seines Bleistifts mit etwas Speichel und beginnt zu schreiben. Peter hat die Fototasche getragen. Den ganzen Tag. Es war heiß und der Gurt hat tiefe Kerben in seine Schulter geschnitten. Eine Nikon und Objektive hat er darin, seine Kladde und einen Regenschirm. Man sollte immer mit Regen rechnen, sagt Peter. Er hat nicht ein Foto gemacht bisher. Er fotografiert nicht. Trotzdem trägt er sie.

Ein Mann rempelt mich an, als ich Peter hinterherlaufe. Der Mann entschuldigt sich. Ich sage „schon gut“, weil ich nicht weiß, was „schon gut“ in Portugiesisch heißt. Er blickt mir nach und ich genieße es. Vergesse kurz den stoisch dasitzenden Peter, der in seine Kladde schreibt, malt oder vielleicht auch nur so tut.

Dr. Meinert sagte, es sei gut, Urlaub zu machen und ich dachte, Lissabon sei genau richtig. Dort, wo wir unsere Flitterwochen verbracht hatten. Wir könnten am Meer spazieren gehen, kämen ein wenig unter Leute und könnten Abends bei einem Glas Wein die Sonne auf dem Meer glitzern sehen, wenn sich die rote Scheibe und das Blau langsam ineinander klappen. So wie damals. Ich dachte, es wäre gut. Ich dachte, es könnte schön werden.

Ich bestand darauf, dass Peter zu Dr. Meinert geht. Immer, wenn ich ihn abholte, sagte er nichts, strafte mich mit Schweigen. Nur einmal, da stellte er mir diese eigenartige Frage, die mir seitdem im Kopf herumschwirrt wie ein lästiges Musikstück: „Weißt du, an wen ich dabei gedacht habe?“ Und ich begann zu weinen, heimlich, schluckte die Tränen und ballte die Fäuste um das Lenkrad, blickte in den Rückspiegel und sah Sanne schlafend. Er sprach nicht weiter, als ich nichts erwiderte. Ich habe ihn nicht mehr danach gefragt.

Überall bröckelt es. Peter gefällt das. Er sagte immer, dass sei morbid und ich sagte dann, dass sei kaputt und wir lachten. Es war unser Spiel. Ich setze mich neben ihn auf die Bank, sage: „Lissabon ist kaputt, am zusammenklappen.“ Aber Peter hat sich in seinen Gedanken verloren, kritzelt in seine Kladde und schweigt.

Ich kann ihm nicht mehr in die Augen sehen seitdem. Wenn ich es tue, habe ich wieder diese Bilder im Kopf, die Peter mir in meine Erinnerung gepflanzt hat, so lange ich lebe: der wacklige Stuhl, auf dessen Seitenrahmen er balanciert, weil die geflochtene Sitzfläche durchgebrochen war; die Wäscheleine um seinen Hals und die Wäsche, die die Treppe hinunter fällt.

Zum Abendessen setzen wir uns in ein kleines Restaurant bei der Kathedrale Sé. Die Sonne streift ein goldenes Gewand über die beiden Türme. Mein Hals ist immer noch ganz rau. Peter war dagegen, beim Schlafen das Fenster geöffnet zu lassen, weil ihm sonst am nächsten Morgen der Hals kratzt und er eine Erkältung bekommt. „Blödsinn“, habe ich darauf gesagt. „Alles quatsch. Ein Lufthauch verursacht keine Erkältung.“ Er hat mich kurz angesehen, aber nichts gesagt. Nur dieser leere Blick.

Das Fenster blieb zu. Die Nacht über saß ich auf dem Balkon, von dem aus man das Meer sehen kann und die belebte Hauptstraße darunter, habe Zigaretten geraucht, eine nach der anderen, sie in meinem Wasserglas ausgedrückt. Gegen sechs rief ich meine Mutter an.

„Wie geht es Peter? Ist etwas passiert“, fragte sie.

Es war zu früh am Morgen für einen Sichmalmelden-Anruf. Überhaupt zu früh für Normalität. Es war nicht mehr die Zeit, nicht über schlimme Dinge zu sprechen.

„Alles gut“, log ich. „Wie geht es Sanne?“

Mutter sagte, dass Sanne sehr gut in Stadt, Land Fluss sei und ob ich das gewusst hätte. Ich sagte einfach „natürlich“ und dachte: Stadt, Land, Fluss. Stadt, Land, Schluss.

Peter stochert in seinem Fischgericht herum. Ich wusste nicht, dass Peter Fisch überhaupt mag und frage mich, warum er ihn bestellt hat, wenn er nichts isst. Falter poltern gegen die Laternen über uns. Man kann es hören.

„Schmeckt‘s“, frage ich ihn.

Er nickt.

„Sanne geht es gut, ich habe heute Morgen bei Mutter angerufen. Wusstest du, dass Sanne sehr gut in Stadt, Land, Fluss ist?“

Er nickt.

Nach dem Abendessen will Peter sofort schlafen gehen. Er zieht seine Sachen aus und legt sich ins Bett, knipst das Licht aus. Klack. Er knipst es einfach aus, wie ein Schnippen, so wie er mich aus seinem Leben geschnippt hat. Die Dunkelheit, die Enge und der Dampf in unserem Zimmer rauben mir den Atem. Ich gehe ins Badezimmer, dusche mich eiskalt, um die Hitze zu vertreiben.

Ich weiß noch – es war Silvester 2003 – da stand Peter an der Balkonbrüstung der WG, meine knallroten Pumps an den Füßen und die Schuhspitze zwischen den Stäben eingeklemmt. „Wie sehe ich aus“, lachte er und schwang eine Flasche Wodka im Takt der Musik, trank davon und sog abwechselnd an einer Haschischzigarette, sang: „Dem Tag mehr Leben, dem Tag mehr Leben.“ Wir waren wild, wir waren roh. Wir hielten unsere Handflächen über offenes Feuer und sahen zu, wer seine Hand zuerst der Hitze entzog. „Darf ich dich behalten“, fragte Peter und küsste mir mit meinem beerenfarbenen Lippenstift auf dem Mund den Schmerz von meiner Hand. Wir waren wie Kinder und nun haben wir selbst welche.

Ich hatte keine Erwartungen an Lissabon. Gut sollte es wieder werden. Mehr nicht. Das Meer, die Luft, die Menschen; sie würden es schon richten, dachte ich, dachte der Arzt. Aber wir merkten bald, dass wir überhaupt keine Erwartungen mehr haben. Und dass Peter das schon viel früher gemerkt hat als ich. Ich schlage mir ein Handtuch um die Hüften, wische die Feuchtigkeit von der Oberfläche des Spiegels und betrachte mein Gesicht. Es kommt mir wie Jahre vor, dass ich es zuletzt bewusst betrachtet habe; nicht nur ein flüchtiger Blick durch die Terrassentür, in der ich mich kurz sah, aber mein Blick sofort zu Sanne im Sandkasten ging. Faltig ist es geworden dieses Gesicht – und fad. Nicht einmal die Sonne Lissabons kann es richten, denke ich, greife nach meinem beerenfarbenen Lippenstift und male eine Sonne auf den Spiegel.

Als ich die Badezimmertür öffne, ist es angenehm kühl im Raum. Es riecht nach Meer, ich höre den Trubel auf den Straßen laut und deutlich. Die Vorhänge wehen mir entgegen. Ich sehe seine Silhouette durch das milchige Weiß, sehe ihn am Balkon stehen.

„Weißt du, an wen ich dabei gedacht habe“, sagt er, als ich näher komme und seine Zehen krallen sich um die unterste Sprosse der Balkonbrüstung. Ich kann die Kälte des Messings spüren. Die unmenschliche Kälte dieser furchtbaren Frage.

„Es war ein Test“, sagt er. „Ich wusste nicht mehr, was ich will, ob ich dich will, das mit dem Kind.“

Der Schall fließt an meinen Ohren vorbei wie ein sämiger Brei aus losen Worthülsen. Ich blicke auf die Straße hinab, höre die Menschen lachen. Wären sie schockiert, würden sie nach oben blicken? Würde er springen? Es ist mir egal.

„Ich habe nur an Sanne gedacht. Nur an sie“, sagt er, stockt kurz, als wringe er mit einem großen Klumpen in seinem Hals, der dort seit einer Ewigkeit heranwächst.

„Ich will die Scheidung.“

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